Skip to content

Corona & Schulöffnungen 2/2: Altes auf Abstand – oder Zeit für Neues Lernen?

Last updated on 3 January 2021

Corona, das offenbart sich jetzt an diversen Stellen, verstärkt Chancenungerechtigkeiten. Das gilt besonders auch für die Schule. In Deutschland ist soziale Herkunft immer lange ein entscheidender Faktor für den Bildungserfolg (1).

Das wird durch die Krise verstärkt: das Kind, das ohnehin mit Anregungen und auch mit Ausstattung wie Laptop, Drucker und Tablet gut versorgt war,  ist es jetzt auch. Für das Kind, das vorher schon schwierig war, auch nur genug zu essen zu haben, um sich zu konzentrieren aufs Lernen, hat jetzt vermutlich noch mehr mit Hunger zu kämpfen, von anderen Herausforderungen ganz zu schweigen. Und das würde auch nicht leichter, wenn dieses Kind, dessen Eltern die Schule womöglich über Wochen nicht erreicht hat, jetzt auf einmal einen Tag in der Woche für zwei Stunden in die Schule kommen soll. Damit ist keinem gedient. 

Es braucht deshalb jetzt keine hektischen Schulöffnungen. Es braucht: Atempausen. Und vier Dinge: 

  • Ein umfassendes Stimmungs- und Erfahrungsbild, wie es Kindern, Jugendlichen und Familien aller Couleur tatsächlich geht in dieser Krise, was sie sich wünschen und was sie brauchen (2). 
    • Für wen ist die Zeit zuhause schwierig? Warum genau ist das so? 
    • Wem tut sie gut und warum?
    • Wem könnte sie gut tun, wenn was genau anders wäre?
    • Was kann man aus den Antworten für Neues Lernen lernen?

Dieses Stimmungsbild muss der Bundesregierung und der Wirtschaft als verbindliche Grundlage dienen und so angelegt sein, dass es leicht aktualisiert werden kann. Denn solange Maßnahmen nach gefühltem Wissen und ohne Einbezug der Betroffenen getroffen werden, schaden sie eher, als dass sie nützen. In alle Entscheidungen sind Betroffene mit und ihre Sichtweise beratend mit einzubeziehen (s. Jürgen, Thomas und die Inklusion). 

  • Umfassende Maßnahmen seitens der Politik und der Wirtschaft, wie Care-Arbeit, in der Corona-Krise, aber auch darüber hinaus, angemessen zu honorieren und in wirtschaftliche Abläufe einzupreisen und einzubauen ist. Das bedeutet, unter anderem,
    • ein angemessenes Corona-Elterngeld – im Übergang eine Anpassung des Infektionsschutzgesetzes dahingehend, dass selbstverständlich Anspruch auf Ersatz haben muss, wer im HomeOffice arbeiten kann und Kinder (am besten unter 18, nicht unter 12) betreut. 
    • eine dauerhafte Anpassung, was “Vollzeitäquivalent” bedeutet, wenn Menschen Care-Arbeit (für Kinder oder andere Angehörige) leisten. 
  • Eine längerfristige, verlässliche zeitliche Perspektive – z.B. Öffnung der Schulen nach den Sommerferien, unter der Bedingung, dass die Zeit bis dahin nicht vorrangig genutzt wird, um Hygienekonzepte zu erstellen, sondern damit die Schulen, gemeinsam mit Unterstützungssystemen, überzeugende Konzepte zum Lernen entwickeln. Die dafür benötigten Rahmenbedingungen sind von Seiten des Bundes zur Verfügung zu stellen, insbesondere Internet, Hard- und Software so wie bauliche Anpassungen. Fragestellungen sind, unter anderem: 
    • Auf Einzelschulebene: 
      • Erreichen wir alle unsere Kinder? Auf welchen Wegen erreichen wir sie? Was tun wir, um sie zu erreichen? 
      • Wer von unseren Kindern ist derzeit nicht in einem sicheren, lernförderlichen Umfeld? Wie können wir dem begegnen? Welche Unterstützung brauchen wir dafür? 
      • Können unsere Kinder derzeit für sie relevante Dinge lernen? Wie können wir Lernen motivierend machen? 
      • Wie kann die Schulgemeinschaft langfristig aufrecht erhalten werden, wenn physische Begegnungen seltener werden? 
      • Welche Mischung aus Digitalem Lernen und Präsenz ist bei uns in der Schule langfristig unter Einhaltung der wesentlichen Hygieneregeln möglich? Welche (baulichen oder anderen Maßnahmen) sind dafür unbedingt notwendig (kurz-, mittel-, langfristig)?
      • Welche innovativen Formen digitalen Lernens sind langfristig hilfreich – über das Bereitstellen von Arbeitsblättern und Schulbüchern in digitaler Form hinaus? 
  • Auf Bundeslandebene/ Übergreifend: 
    • Vor dem Hintergrund der Corona-Krise: was müssen Kinder heute lernen? 
    • Wie müssen Rahmenlehrpläne aussehen, die allen Kindern individuell und inklusiv relevante Inhalte und Methoden sowie die sozialen Aspekte von Schule vermitteln, wenn Schule als physischer dauerhaft oder zeitweise nicht oder nicht in vollem Umfang zur Verfügung steht? 
    • Wie können formative statt summativer Bewertungen systematisch eingesetzt werden und was braucht, damit das gelingt? 
      • Wissenschaftlich ist die Sinnhaftigkeit von Noten schon lange widerlegt (3). In der derzeitigen Situation entfällt das, was sonst zumindest ähnliche Rahmenbedingungen schafft: z.B. bei in der Vorbereitung von Arbeiten mit annähernd gleicher Vorbereitung durch die Lehrkraft, eine kontrollierte Umgebung, in der die Leistung erwartet wird, etc. Alles das funktioniert jetzt noch weniger. Zusammen mit dem neuen Bedenken von Inhalten muss deshalb auch neu gedacht werden, wie Feedback auf eine Weise aussehen kann, die zum weiteren Lernen motiviert und dafür Hilfestellung gibt. 
  • Last, but not least: ein durchdachtes Angebot der Notbetreuung einerseits für Kinder von Menschen in systemrelevanten Berufen, andererseits für alle diejenigen Kinder und Jugendlichen, die aus welchen Gründen auch immer in ihrem häuslichen Umfeld nicht so lernen können, wie sie es brauchen. Dabei sollte der Grundsatz gelten: wer es braucht, bekommt das Angebot.
    • Entscheidend sind dabei die Bedarfe und Herausforderungen für die Kinder und Jugendlichen und ihrer Familien. Eine solche Notbetreuung dient ausdrücklich nicht dazu, den “ideal worker” für Arbeitgeber wieder herzustellen. Hier gilt Forderung zwei (s.o.).

Wir haben jetzt eine einmalige Chance – nämlich diejenige, unser Schulsystem aus dem 19. Jahrhundert in ein Lernen für das 21. und 22. Jahrhundert zu bewegen. Dafür allerdings müssen wir uns von dem inneren Bild von “Schule” lösen – und andere Wege gehen, mit anderen Mitteln. Denn, wie Einstein häufig zugeschrieben: “Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.”

Ändern wir also die Richtung! 

Zurück zu Teil 1

Anmerkungen

1   S. ausführlich z.B. http://www.oecd.org/newsroom/educational-disadvantage-starts-from-age-10.htm

2  Es gibt bereits eine Vielzahl an Befragungen und Untersuchungen dazu, z.B. durch das WZB, und es wird weitere geben. Bisher allerdings scheint es, dass diese Ergebnisse zumindest nicht systematisch und verpflichtend von den entsprechenden Entscheidungsträgern herangezogen werden, um ihre Entscheidungen zu stützen. Auffällige Beispiele, wie die Arbeit und auch die Bedarfe der betroffenen Gruppen ignoriert werden,  sind die verschiedenen Offenen Briefe der Schulleitungen, der Lehrerverbände und anderer Gruppen an Ministerin Gebauer zu den Schulöffnungen (z.B. vom VBE hier; von der Schulleitungsvereinigung NRW hier)

3 Vgl. z.B. schon Jachmann 2003: “Zusammenfassend kann also festgestellt werden, dass die traditionelle Leistungsbeurteilung durch Ziffernzensuren den Kriterien einer Messung nicht oder allenfalls in rudimentärer Form genügen. Mit dem Fehlen der Objektivität in der Beurteilung ergibt sich fast schon zwingend, dass auch wesentliche Aspekte der Reliabilität und Validität nicht gegeben sind. Noten erweisen sich somit eher als ein Konglomerat von verschiedenen Einschätzungen, in dem die tatsächliche Fachleistung nur eine Größe unter anderen darstellt. Als Indikator für die tatsächliche Leistung kann die Note demnach nur sehr bedingt gelten  – bestenfalls stellt sie einen Schätzwert dar, schlimmstenfalls eine willkürliche oder zufällige Zuordnung.” 

Literatur

Jachmann, Michael (2003). Noten oder Berichte? Die schulische Beurteilungspraxis aus der Sicht von Schülern, Lehrern und Eltern.

Schulte, Brigid (2014). Overwhelmed. Work, Love and Play when No One has the Time.

Bild: Privat. Einblick in den Lernraum Berlin.

Published inCoronaInklusionUncategorized

One Comment

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *

Captcha loading...