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Jürgen, Thomas und die Inklusion

Last updated on 4 May 2020

Eine Betrachtung zu den 3. Ad-Hoc-Empfehlungen der Leopoldina zur Corona-Krise

Was haben Jürgen, Thomas und Inklusion gemeinsam? Nun – es gibt etwa das Kinderbuch “Los, Jürgen, spring!” von Doralies Hüttner (1974). Jürgen ist contergangeschädigt, er hat keine Arme. Die Geschichte erzählt, wie er seinen Weg macht – unabhängig von seiner Behinderung, gemeinsam mit seinen Freunden. Aber in Zeiten von Corona haben Jürgen und Thomas mit Blick auf Inklusion eine andere Bedeutung. Am Ad-Hoc-Gutachten der Leopoldina, das am 13.4.2020 veröffentlicht wurde, und das Empfehlungen für den weiteren Umgang mit dem Lockdown geben soll, haben 26 Menschen in der Arbeitsgruppe mitgewirkt. Dabei: drei Jürgens, drei Thomasse.   

Ich habe meinen Doktor in Namenkunde gemacht. Auch die übrigen Namen deuten darauf hin, was ein genauerer Blick zeigt: der Altersdurchschnitt liegt über 60 – Manfred, Reinhard, Klaus, etc. Frauen sind insgesamt nur zwei dabei. Namen, die auf einen Migrationshintergrund deuten, gibt es einen. 

Eine Gruppe, die homogener kaum sein könnte, soll in einer nie dagewesenen Situation für eine Gesellschaft, die sie in keiner Weise repräsentiert, Empfehlungen treffen. Das wäre gerade so noch tolerabel, wenn die Empfehlungen zeigten, dass diese sehr homogene, sehr exklusive Gruppe zugehört hat. Dass sie verstanden hat, dass es um eine plattentektonische Verschiebung gehen muss, wie wir künftig leben, in was für einer Gesellschaft, wie wir füreinander da sind, und wo wir Prioritäten setzen. 

Das hat sie nicht getan. Im Gegenteil: die Empfehlungen dienen, in meiner Wahrnehmung, in beinahe karikaturhafter Weise fast ausschließlich dazu, die dieser Gruppe fast ausschließlich weißer Männer bekannte Gesellschafts-, Wirtschafts- und politische Ordnung in ebenfalls bekannter Weise wieder herzustellen. Das ist eine ausgeprägte Form von “Able-ism”, “White-ism” und “Male-ism” – der Blick ausschließlich durch die eigene Brille, in diesem Fall der des weißen, i.d.R. nicht behinderten Mannes. Ich unterstelle keinem der 26 Mitglieder, dass sie mangelnde Expertise in ihrem Fach haben, im Gegenteil. Auch nicht, dass sie nicht alles gegeben haben, um nach bestem Wissen und Gewissen zu empfehlen. Nur: diese ihre beschränkte Brille, die nicht durch eine Diversität innerhalb der Gruppe aufgehoben wird, reicht in keiner Weise aus, um der Situation, unserer Gesellschaft, wie sie ist, und den daraus entstehenden Fragen gerecht zu werden. Das ist nicht Schuld eines einzelnen Mitgliedes – aber es ist eine verpasste Chance, eine solche Gruppe in dieser Lage überhaupt einzusetzen, ungeachtet der Expertise jedes einzelnen. 

Inhaltlich fallen mir drei Dinge auf: 

  • eine insgesamt fast naiv wirkende Forderung, nicht von bisherigen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodellen und Präferenzen abzurücken. Die Vermutung liegt nahe, dass das so ist, weil es das Modell ist, das die Mitglieder dieser Gruppe gewohnt sind.
  • die völlige Bezuglosigkeit zwischen Empfehlungen für Bildung und Wirtschaft mit Blick auf Care-Arbeit. Es werden einerseits Empfehlungen ausgesprochen, die einerseits “Normalisierung” der Wirtschaft verlangen (ohne dabei zu hinterfragen, welches Wirtschaftsmodell jetzt hilfreich wäre, s.o.) – und andererseits werden mit Blick auf Kita & Schule Modelle vorgeschlagen, die eine normale Berufstätigkeit unmöglich machen. Wer betreut die zu Hause bleibenden Kita-Kinder? Wer die Grundschulkinder, wenn sie turnusmäßig zuhause sind? Wer stellt die Infrastruktur & Unterstützung für die älteren Klassen zu Verfügung, wenn sie digital unterrichtet werden (Endgeräte, WLAN, Drucker, …)? Die Zusammensetzung der Arbeitsgruppe legt nahe, dass das Bild in den Köpfen das eines Alleinverdieners ist, mit einer Frau zuhause, die sich dann schon kümmert. Was genau mit den Kindern außerhalb der Schichten – oder mit den Kita-Kindern, passiert, bleibt hinreichend vage. An keiner Stelle wird die Wirtschaft gefordert, innovative Lösungen zu überlegen, wie Arbeit und Bildung für alle in den kommenden Wochen und Monaten aussehen könnten. An keiner Stelle wird darauf geguckt, dass sich Prioritäten verschieben und dass sich Arbeit & Familie kombiniert mit Home Office, Home Schooling und selbst einem so (schwer durchzuführenden) Schichtsystem wie vorgeschlagen nicht mehr so trennen lassen wie bisher. 
  • der praxisferne Blick auf Kita & Schule: die Empfehlungen geben Anlass zu der Vermutung, dass keines der Mitglieder kürzlich eine Kita oder Grundschule einmal länge von innen gesehen hat. Das Bild, was sich anlässlich der “reduzierten Gruppen von 15 Kindern” vor meinem inneren Auge aufbaut, ist eines von 15 Einzeltischen mit einem Lehrer vorne, der doziert. Grundschule – Schule! – ist nicht so. Da sitzt man an Gruppentischen, da drängelt man beim Rein- und Rausgehen, da wird die Lehrkraft kurz in den Arm genommen, da baut man menschliche Pyramiden und läuft Arm in Arm über den Schulhof. Und warum sollte man die 4. Klassen jetzt noch unterrichten? Die Empfehlungen für die weiterführende Schule sind längst gefallen, die Schulplätze verteilt. Manchmal nutzen Schulen das letzte halbe Jahr noch, um noch einmal “Lernen lernen” zu trainieren oder den Kindern tolle Erlebnisse in Form von Ausflügen und Projekten mitzugeben. Manchmal ist es einfach leere Zeit. Da besteht kein Bedarf. Wichtiger sind die die 3. bzw. in Berlin und Brandenburg die 5. Klassen – denn die zählen entweder direkt oder als Vorbereitung für die Übergangsempfehlung, die mit dem Halbjahreszeugnis der 4. bzw. 6. Klasse ausgesprochen wird. Das RKI hat außerdem deutlich gemacht, dass epidemiologisch eine Öffnung der oberen Klassen sinnvoller wäre. Fragen nach Risikogruppen unter den Kindern, den Erzieherinnen und in der Lehrerschaft werden nicht gestellt. Alle Erkenntnisse der Schulforschung aus den letzten Jahren und Jahrzehnten, zum individuellen Lernen, zur Teamarbeit bei Schüler*innen und Lehrkräften, zur Projektarbeit, zum rhythmisierten Ganztag, werden völlig ignoriert. 

Aus meiner Sicht gibt es jetzt nur eins: zügig eine neue, geschlechter-, alters- und gesellschaftsmäßig paritätisch besetzte Gruppe beauftragen, sich mit drei Fragen in Bezug auf die neue Normalität nach Corona auseinanderzusetzen, und dabei solidarische, kluge Lösungen für den Weg in diese neue Normalität zu finden: 

  • Wie sieht eine neue Gesellschaftsordnung aus, die die verschiedenen Gruppen gleichermaßen wertschätzt, Systemrelevanz auch monetär und organisatorisch anerkennt und in allen Punkten den Grundsatz “nichts über uns ohne uns” ernst nimmt? 

Die Corona-Krise zeigt, dass die Gesellschaft am Laufen gehalten wird von Menschen, die gesellschaftlich oft wenig Anerkennung erhalten: Pflegepersonal, Erzieherinnen (nur 5,2% in Männer), Kassiererinnen, Paketboten, Müllabfuhr, Lehrkräften, aber auch: Eltern. Und die Gesellschaft ist divers: sie besteht, in Deutschland, zu 25,5% aus Menschen mit Migrationshintergrund. 21% sind über 65. 42 Millionen sind weiblich. 39 Millionen leben in Haushalten mit einem oder mehr Kindern. 7,5 Millionen leben mit einer schweren Behinderung. 7 Millionen sind Diabetiker*innen, 8,5 Millionen haben Asthma; 1,5 Millionen leben mit einer Krebserkrankung. Die bisherige Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung geht, wie Criado-Perez in “Invisible Women” zeigt, von dem weißen, nicht behinderten Mann als Normalfall aus. Aber er ist nicht der Normalfall. Und deshalb ist es an der Zeit, gemeinsam eine Gesellschaft zu gestalten, in der alle, die in ihr Leben, aktiv an ihr teilhaben können.

  • Wie gelingt der Ausbau der Solidarität im Gesundheits- und Bildungswesen, um für künftige, ähnliche Fälle gewappnet zu sein? 

Es zeigt sich, dass wir in Deutschland einerseits großes Glück haben: unser Gesundheitssystem, das wesentlich auf Solidarität baut, ist gut ausgestattet, um (bisher und Weitenteils) den Anforderungen der Corona-Krise standzuhalten. Das gilt es weiter auszubauen: z.B. mit der Abschaffung der privaten Kassen als Ersatz für allgemeine Kassen (als Zusatz mögen sie noch erlaubt sein), um das Solidaritätsprinzip auf noch bessere Füße zu stellen. Dazu gehört dann auch, selbstverständlich Impfstoffe anderen Ländern zu Verfügung zu stellen und grundsätzlich mit dem Gut Gesundheit kein Geld verdienen zu wollen. 

Im Bildungssystem, andererseits, ist das nicht der Fall. Für die Kita entfällt – sowieso – die Möglichkeit, Kita digital zu machen – hier braucht es viel mehr die oben genannte viel ausgeprägtere Wertschätzung, auch finanziell, der Arbeit der Erzieherinnen. Schulen waren, trotz des Digitalpakts, weitgehend unvorbereitet – trotz höchst engagierter Lehrkräfte und oft pausenlosen Einsatzes von Schulen, Schulleitungen und Lehrkräften zeigt sich hier, dass die Ungerechtigkeiten des Bildungssystems sich in einer solchen Phase wie dieser schlicht fortsetzen. Wer zuhause recht gut gefördert wird, für den sind Schulschließungen kein (so) großes Thema (allenfalls für die Eltern, die, beide berufstätig, nun auch Home Schooling machen sollen, während Arbeitgeber gerne mal “volle Leistung” erwarten – auch hier zeigt sich das Nebeneinander der Systeme, das nicht nur für das Papier der Leopoldina gilt). Wer es zuhause schwer hat, für den verstärkt sich die Situation hier nochmal. 

Jetzt ist die Chance, sich von dem ewigen “Mittelkopf” zu lösen und Kinder zu ermöglichen, wirklich individuell, nach ihrem Entwicklungsstand, zu lernen. Damit wird auch Inklusion eine Selbstverständlichkeit, weil es nicht mehr darum geht, dass ein Kind “mitkommt” – sondern das es vorankommt auf seinem je eigenen WEg. Und der braucht keine Separation, der braucht Gemeinsamkeit. 

Dafür braucht es, unter anderem, geeignetes Material, geeignete Hard- und Software, die ALLEN Schüler*innen zur Verfügung stehen muss, selbstverständlich und unabhängig vom Elternhaus – und ein gänzlich neues Teamverständnis von Lehrkräften, die bisher, in Deutschland, oft noch sehr unabhängig agieren. Wir müssen wissen, wie man ALLE Familien in Deutschland erreicht. Das braucht eine neue und andere Zusammenarbeit von Eltern und Lehrkräften. Es gibt viele, viele Schulen, die alles das schon hervorragend machen (Beispiele finden sich unter anderem beim Deutschen Schulpreis, auf dem Deutschen Schulportal, unter www.jakobmuthpreis.de – und sicher auch an vielen anderen Orten). Sie können Anregungen geben, mit ihnen UND mit denen, die sich in dieser Situation alleine gelassen fühlen, müssen wir reden und müssen Bund, Länder und Kommunen gemeinsam neue Wege gehen. Dazu gehört, wie im Gesundheitssystem, uns von Sondersystemen zu trennen und alle Ressourcen und die hohe sonderpädagogische Expertise in das allgemeine Schulsystem zu geben – und dort innovative Wege zu finden, um Inklusion umzusetzen. 

  • Wie gelingt es, Wirtschaft neu zu denken, Globalisierung mit Nachhaltigkeit und gegenseitiger Sorge zu verbinden? 

Corona war in dieser Heftigkeit und Geschwindigkeit nur möglich, weil wir heute auf vielfältigste Weise miteinander vernetzt und verbunden sind, oft, ohne genau zu wissen wie. Das hat die Verbreitung enorm beschleunigt. Es ist deshalb jetzt an der Zeit, darüber nachzudenken, wie diese Verbundenheit neu genutzt werden kann, um uns gemeinsam für eine Welt einzusetzen, in der niemand mehr auf Kosten eines anderes lebt: nicht hier und nicht anderswo, nicht jetzt und nicht in der Zukunft. Im Moment tun wir im Westen beides: wir leben auf Kosten künftiger Generationen und wir leben auf Kosten von Menschen in anderen Erdteilen, die einerseits für uns zu Spottlöhnen arbeiten, und die andererseits die Auswirkungen der durch uns verursachten Klimaschäden zu tragen haben.  Beides ist in hohem Maße unsolidarisch und ungerecht. Während in Hauptmanns “Webern” der Fabrikant Dreißiger nur die Straße hinuntergehen muss, um das Leid der Weber zu sehen, haben wir es aus unserem Blick verbannt. Wir müssen uns jetzt deshalb trauen zu fragen: wie wollen wir als Weltgemeinschaft leben? Was bedeutet unsere Freiheit einer Urlaubsreise, wenn sie direkt oder indirekt zur Zerstörung des Urlaubsortes beiträgt? Wie “normal” ist es, wenn ein 5-10% der Weltbevölkerung fliegen und damit je individuell den größten Beitrag zum Klimawandel leisten – aber gleichzeitig gut 11% unterernährt sind? Corona bietet uns die Chance, uns als Welt neu aufzustellen. Vielleicht weniger physisch unterwegs und beieinander – aber mit dem Ziel einer gemeinsamen Vision, füreinander statt gegeneinander, nachhaltig statt einseitig. 

Um auf den Anfang zurückzugehen: Jürgen, Thomas und Inklusion haben eben zu wenig miteinander zu tun. Die exklusive Arbeitsgruppe der Leopoldina illustriert den Gegenentwurf zu dem, was der Kern von Inklusion sein muss: Menschen (gut) kennen, die anders sind als man selber (aus unterschiedlichen Fachrichtungen zu kommen reicht nicht aus). Mit anderen Herausforderungen, aus anderen Hintergründen, mit anderen Wertvorstellungen und Zielen. Das war in der Leopoldina nicht der Fall – und das ist die Schwäche des Papiers. So gut alle für sich als Expert*innen sein mögen: sie sind befangen und sich ihrer Befangenheit nicht bewusst, wie die Empfehlungen verdeutlichen. Ich warte mit Spannung auf eine neue Arbeitsgruppe – divers, kontrovers, heterogen, lebensnah und inklusiv. In der sich neben Thomas und Jürgen auch Hannah und Maryam, Matija und Kevin, Ela und Nurgül  finden – Jahrgänge 1940 bis 2010. 

Quellen 

www.deutscher-schulpreis.de

www.jakobmuthpreis.de

https://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61646/migrationshintergrund-i

www.statista.de 

https://www.sueddeutsche.de/bildung/coronavirus-corona-krise-schulen-kinderbetreuung-1.4876048

www.worldometer.com

Criado Perez, Caroline (2019). Invisible Women. Exposing Data-Bias in a World designed for Men. Chatto & Windus. 

Hauptmann, Gerhard (1892). Die Weber. 

Hüttner, Doralies (1974). Los, Jürgen, spring! Rowohlt. 

Sullivan, Arthur (27.1.2020, abgerufen am 15.4.2020). Der Klimawandel und das Fliegen. Deutsche Welle. 

Bildnachweis: privates Foto von “Los, Jürgen, spring!” von Doralies Hüttner.

Published inCoronaInklusionLeopoldinaRezension

3 Comments

  1. […] Erstens: weder die betroffenen Kinder und Jugendlichen, noch ihre Eltern, noch ihre Lehrkräfte oder Schulleitungen kommen irgendwo systematisch zu Wort. Es scheint, dass wieder die Jürgen und Thomasse, die Christians und Achims, darüber entscheiden, was Kinder und Familien brauchen, deren Lebensrealität den genannten Namensträger offenbar sehr fern ist (vgl. Replik zur Leopoldina hier).  […]

  2. […] Dieses Stimmungsbild muss der Bundesregierung und der Wirtschaft als verbindliche Grundlage dienen und so angelegt sein, dass es leicht aktualisiert werden kann. Denn solange Maßnahmen nach gefühltem Wissen und ohne Einbezug der Betroffenen getroffen werden, schaden sie eher, als dass sie nützen. In alle Entscheidungen sind Betroffene mit und ihre Sichtweise beratend mit einzubeziehen (s. Jürgen, Thomas und die Inklusion).  […]

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