Last updated on 4 May 2020
Kennen Sie diese alten Apothekerschränke? Oft aus dunklem Holz, mit vielen, vielen Schubladen, oft verschiedener Größe. Manchmal findet man sie auch noch in alten Eisenwarenhandlungen, diesen, in denen man die Schrauben noch einzeln bekommen kann. Ich liebe diese Schränke – und diese Eisenwarenhandlungen.
Wenn ich dahin komme und sage: “Ich brauche einen Haken aus Messing, darf gerne alt aussehen, für die Toilettentür in meiner Altbauwohnung” – dann bekomme ich genau diesen Haken, den ich möchte. Und dazu das passende Gegenstück und passenden Schrauben. Beides kommt aus den Schubladen, in denen Schrauben, Haken und Ösen fein säuberlich sortiert liegen. Egal, wer mich bedient – wer in diesem Laden arbeitet, der weiß sofort, wo das liegt, was ich suche. Wichtig sind die Schubladen und die Ordnung, die sie herstellen.
In dem wunderbaren Buch “The Grimm Legacy” will Elizabeth einen Schülerjob als Bibliotheksgehilfin in der New York Circulating Material Library antreten. Zum Einstellungstest gehört es, Knöpfe zu sortieren. Einmal, zweimal, dreimal. …
“Sortier diese hier, bitte.” Dr. Rust reichte mir eine Schachtel mit Knöpfen.
“Sortieren? Wonach soll ich sie sortieren?”
“Nun, das hängt von dir ab, nicht wahr?”
(Polly Shulman, The Grimm Legacy, eigene Übersetzung.)
Elizabeth sortiert nach Material. In der nächsten Runde dann nach Farbe und Größe. Dann wieder nach Form.
Apothekerschrank und Knöpfesortieren – beides hat fundamental mit Inklusion zu tun. Warum?
Der Apothekerschrank mit den sortierten Schrauben zeigt: Ordnung ist wichtig. Sie erleichtert uns das Leben. Schubladen machen es uns einfach, Dinge zu finden – und Dinge wieder wegzuräumen.
Die Forschung hat gezeigt, dass es für unseren Alltag und unser Überleben ungemein wichtig ist, dass wir möglichst viele Dinge automatisieren, ausblenden und vereinfachen (“automatisiertes Denken (Webb: 13: ’automatic system’)”) – damit wir für die Dinge, die mehr Überlegung brauchen, genügend Kapazitäten zur Verfügung haben (“besonnenes Denken” (Webb 15: ‘deliberate system’). Webb fasst das so zusammen:
Wenn es besonders viele Eindrücke zu verarbeiten hat, tut unser Hirn also so, quasi wie der Apothekerschrank, als sei die Ordnung und das Bild von der Welt, das wir geschaffen haben, das einzig mögliche.
“Unser System des besonnenen Denkens ist verantwortlich für anspruchsvolle Funktionen – Vernunft, Selbst-Kontrolle, abwägendes Denken. Es ist hervorragend darin, mit allem umzugehen, was unbekannt, komplex oder abstrakt ist. Aber es verfügt nur über eine begrenzte Kapazität. Ist es überbeansprucht oder abgelenkt, ist es schwieriger für uns, weise, ausgeglichen oder verlässlich zu sein und zu agieren.
Unser System des automatischen Denkens erleichtert dem System des besonnenen Denkens seine Arbeit, indem es die meisten Dinge, die wir tun, automatisiert und Abkürzungen vornimmt, die einen Großteil “unwichtiger” Informationen ausblenden. Häufig ist das hilfreich. Es bewirkt allerdings, dass wir “blinde Flecken” haben. Und die Tatsache, dass niemand die Wirklichkeit völlig objektiv wahrnimmt, kann dazu führen, dass wir aneinander vorbeireden und schlechte Entscheidungen treffen.
Wir können die beiden Funktionen unseres Gehirns am besten nutzen, wenn wir uns bewusst sind, wo jedes der Systeme an seine Grenzen stößt. Das bedeutet insbesondere, dass wir versuchen, Bedingungen zu schaffen, in denen das besonnene Denken besonders gut funktioniert und dass wir lernen zu erkennen, wann wir innehalten sollten und unseren Autopiloten ausschalten.” (Webb: 20; eigene Übersetzung).
Dabei zeigt das Knopf-Experiment (wie das besonnene Denken): das geht auch anders. Ich muss die Knöpfe nicht nach Alter, Material oder Größe sortieren. Ich könnte auch Farbe oder Form wählen, Beschaffenheit der Oberfläche, Anzahl der Löcher, Verwendungszweck – oder irgendetwas anderes.
Unser Schulsystem in Deutschland ist ganz besonders sortierfreudig – es sortiert Kinder nach Alter, nach vermuteter Begabung, nach Behinderungsart, nach Interessen oder Berufswünschen. Und es ist dabei ein bisschen wie der Apothekerschrank: wer sich erst einmal in einer Schulschublade befindet, der kommt da oft nicht so schnell wieder heraus. In den Klassenzimmern selber geht das Sortieren oft weiter: “Ach ja, Emil ist hochbegabt. Kevin hat ADHS, Lisa Downsyndrom. Fatma ist schüchtern, Clarissa ist zickig, Farid ein Störenfried, Aisha eine Traumsuse.” Ein Gespräch wie “Ach, der Joel war heute wieder total auf Krawall aus,” “Ja, bei mir ist er auch über Tische und Bänke gegangen”, ist nichts Ungewöhnliches in einem Lehrerzimmer.
Wie bei allem, erleichtern auch hier Kategorien unser Arbeitsgedächtnis. Und es ist anzunehmen, dass Emil vielleicht tatsächlich ein sehr schnelle Auffassungsgabe hat, Kevin sich gerne bewegt, Fatma etwas länger braucht, bis sie Zutrauen fasst und so weiter. Aber: Emil ist vielleicht auch manchmal faul und mag Lesen lieber als Mathe, Kevin ist hilfsbereit, Lisa singt gerne, Fatma kann gut klettern. Wie die Knöpfe haben sie alle mehr als nur eine Eigenschaft – und sie haben diese Eigenschaften auch alle gleichzeitig.
Was Menschen von Schrauben oder Knöpfen unterscheidet: während es den Schrauben und Knöpfen herzlich egal sein wird, wie sie sortiert werden, ist es Menschen – und für Menschen – nicht egal. Die Sortierung in eine Schulform kann darüber entscheiden, ob ich einen Abschluss bekomme, der mir später weiterhilft; der Stempel, den ich von einer Lehrkraft bekomme, kann dazu beitragen, ob mir Schule und Lernen Spaß machen – oder ob ich glaube, ich tauge ja eh nichts und muss mich deshalb auch nicht anstrengen.
Und einen zweiten Unterschied gibt es: während sich etwa die Eigenschaften der Knöpfe im Laufe der Zeit nicht wandeln, ist das bei Menschen – und bei Kindern besonders – anders. Sie werden nicht nur körperlich größer, sie wachsen auch innerlich. Sie verstehen die Welt mit sechs anders als mit 10, mit 10 anders als mit 12 oder 15. Und wie genau sie die Welt sehen, wahrnehmen und verstehen – das ist bei jedem anders und verändert sich auch nicht im Gleichschritt. Manches bleibt sich ähnlich – anderes nicht. Und es ändert sich mehr, als man manchmal denkt.
Eine Schule, die inklusiv sein will, muss deshalb vor allem eines tun:
sie – das heißt: jeder einzelne Mensch, der in ihr tätig ist – muss ihre Kategorien und Klassifizierungen immer wieder hinterfragen und aufbrechen und sich der Fragilität ihrer Urteile bewusst sein. Also jeden Tag die Knöpfe neu anzusehen, den Apothekerschrank aufzuziehen und zu fragen: welche Sortierung, welcher Blick könnte JETZT GERADE helfen, damit dieses Kind, dieser Mensch, seinen nächsten Entwicklungsschritt gehen kann?
Ganz praktisch kann das heißen: beim nächsten Gespräch, sei es über Schüler oder Kollegen statt “Ja, das war bei mir auch so!” zu sagen, erst einmal zu fragen: “Ach, was genau ist denn passiert? Was glaubst du, war der Grund dafür?” Und dann vielleicht gemeinsam herauszubekommen, dass es heute klug ist, die Knöpfe nach Form zu sortieren, und nicht nach Material. Und morgen vielleicht wieder anders. Und dabei im Blick zu halten: Menschen wachsen, innerlich und äußerlich. Knöpfe nicht.
Literatur
Shulman, Polly (2012). The Grimm Legacy.
Webb, Caroline (2016). How to have a good day at work.
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