Last updated on 4 May 2020
Philippa Perry – The book you wish your parents had read
Neulich sagte mir eine liebe Kollegin: “Ich wünschte, ich hätte eine Gebrauchsanweisung für mein Kind.” Damit sprach sie mir aus der Seele. Und vielen anderen Eltern sicher auch: es wäre so praktisch, wenn mit jedem Kind auch gleichzeitig die Gebrauchsanweisung mitgeliefert würde. Manchmal denkt man beim ersten Kind noch, das würde einem jetzt zumindest eine grobe Gebrauchsanweisung für die Gattung “Kind” geben, die sich dann bei weiteren Kindern entsprechend anwenden ließe, mit leichten Veränderungen je nach Modell. Und dann stellt man – als Mehrfachelter – fest: nix ist. Nr. 2 und folgende ähneln allenfalls äußerlich dem Prototypen. Der Knopf, der zuverlässig bei Kind Nr. 1 funktioniert hat, erzeugt bei Kind Nr. 2 die gegenteilige Reaktion. Bei Kind Nr. 3 ist er kaputt, dafür gibt es einen Hebel, der ähnliche Funktionen hat.
Philippa Perry beginnt in ihrem Buch “Das Buch, von dem du wünschst, deine Eltern hätten es gelesen”, deshalb nicht umsonst von der anderen Seite: “Wer bist Du eigentlich?” Du – lesendes Elternteil. Was ist die Gebrauchsanweisung für Dich? Wo sind Deine Knöpfe? Denn: was wir tun, sagt sie, worauf wir reagieren, was uns an unseren Kindern irritiert und wie wir mit ihnen reden – kommt aus unserer Kindheit. Aus den Worten und Taten unserer Eltern, aus unseren Ängsten und Zweifeln und Erfahrungen. Und die kommen aus ihrer eigenen Geschichte und der ihrer Eltern: “Wir sind nur ein Glied einer Kette, die sich durch vergangene Jahrtausende zieht und weit in die Zukunft” (Pos. 273, e.Ü.). Und nur, wenn wir uns bewusst werden, was uns geformt hat, können wir aktiv damit umgehen, was wir weitergeben wollen, und wie wir das tun möchten, wenn wir das gestalten wollen, was wichtig ist: die Beziehung zu unseren Kindern. Das Gute, sagt Perry, ist: Wir sind dem nicht ausgeliefert. Wir können es verändern. Dafür allerdings müssen wir es angucken. Und dann barmherzig damit umgehen. Wenn wir uns – scheinbar – über unsere Kinder ärgern, dann, so Perry, sei es eine gute Idee, das als Warnung zu verstehen: als Warnung, dass unsere eigenen Knöpfe gedrückt werden.
In dieser und fünf weiteren Stationen zeigt Perry auf, welche Aspekte zu dieser Beziehungsreise gehören können, der Beziehung zu uns selbst und zu unseren Kindern:
- Unser erzieherisches Erbe (Your parental legacy) – nur, wenn wir uns unserer eigenen Er- und Beziehungsgeschichte stellen, können wir aktiv entscheiden, was davon wir weitergeben wollen
- Die Umgebung des Kindes (Your child’s environment) – nicht familiäre Strukturen sind entscheidend, sondern der Umgang miteinander: uns selber definieren – nicht den anderen (weder das Kind, noch den Partner)
- Gefühle (Feelings) – “felt with, not dealt with”, formuliert Perry. Gefühle nicht unterdrücken, verleugnen oder verdrängen – sondern wahr- und ernst nehmen. Wir müssen weder unsere Gefühle noch die unserer Kinder “reparieren”, sondern unsere Kinder – und uns – dabei begleiten, damit umzugehen.
- Ein Fundament bauen (Laying a Foundation) – Be- und Erziehung beginnt schon in der Schwangerschaft – und gerade im ersten Jahr ist es wichtig, auch sich selber im Blick zu haben. Die Einsamkeit junger Eltern kann zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden, weil Einsamkeit es schwieriger macht, Kontakt zu suchen, selbst, wenn es möglich wäre.
- Bedingungen guter psychischer Gesundheit (Conditions for good mental health): Kommunikation von Anfang an, eine Begleitung durch alle Launen hindurch – und: Schlaf – das gehört zu Basis für gute psychische Gesundheit.
- Verhalten: jedes Verhalten ist Kommunikation (Behaviour: all behaviour is communication). Kinder sind nicht brav oder frech – sie verhalten sich (wie wir alle) situativ bequem – oder situativ unbequem. Um sich weitgehend situativ bequem zu verhalten, sagt Perry, müssen Menschen vier Fertigkeiten lernen: Frustration aushalten, Flexibilität, Problemlösungskompetenzen und Perspektivwechsel: die Fähigkeit, Dinge aus Sicht anderer zu sehen und zu fühlen. Verbalisieren helfen, Gefühle einordnen, schwierige Situationen ankündigen – alles das kann helfen, gemeinsam zu gutem Umgang zu kommen.
Perry fasst zusammen: Alltag wird leichter, wenn wir ein paar Dinge bewusst machen – u.a.:
- verstehen, wie unsere eigene Kindheit unser Verhältnis zu unseren Kindern beeinflusst
- die Lage auch aus Sicht unseres Kindes versuchen zu verstehen
- unserem Kind helfen, seine eigenen Gefühle auszudrücken (und nicht die, die wir gerne hätten, die es hätte)
- uns selber versuchen zu definieren, nicht, wie wir unsere Kinder gerne hätten
- wissen, dass wir Fehler machen werden, die Fehler zugeben und ändern, was geändert werden muss
Keine Gebrauchsanweisung für die Gattung “Kind”, also. Aber wer auf der Suche ist danach, wie wir mit unseren Kindern – diesen eigenen, spannenden, neugierigen, weltgestaltenden, fremden, so vertrauten Wesen – eine immer neue und echte Beziehung zu führen, für den ist Perrys Buch ein guter Leitfaden. Er bewahrt nicht vor Fehlern – die Umsetzung geht eben doch auch mal im Alltag unter. Aber er uns zeigt, immer wieder, wie ein Kompass, in welche Richtung wir laufen und wir eigentlich hinwollen. Auch, wenn das Terrain gelegentlich sehr schwergängig ist. Und: dass wir gemeinsam laufen mit unseren Kindern. Perrys Kompass ist modellunabhängig: besser als jede Gebrauchsanweisung!
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